Multimodal durch die Niederlande 1

10. Dialog mit dem schlauen Bergschaf-Bock

Ich: Mein lieber Bock!!!

Bock: Da wäre wohl ich gemeint?!

Ich: So ist es! Mein Lebensgefährte und ich sind gerade von unserer Reise aus den Niederlanden zurückgekehrt. Zuerst waren wir ein paar Tage in Amsterdam, dann Traditions-Segeln am IJsselmeer, danach auf der westfriesischen Insel Terschelling – um das Wattenmeer und die Dünen zu bestaunen – und danach haben wir uns in die Fahrrad-Städte Utrecht und Houten begeben. Abschließend verbrachten wir ein paar Tage in Den Haag an der Nordseeküste (Spoiler: aus Radfahrsicht ein Kulturschock gegenüber den vorangegangenen Städten, also eher wieder wie bei uns).

Bock: Jaaa ... mich hat es nicht so interessiert mitzukommen – es ist ja alles flach dort - das ist kein Gebiet für ein Bergschaf!

Ich: Die Dünen wirken wirklich hoch wenn die Landschaft rundherum vollkommen flach ist und teilweise unter dem Meeresspiegel liegt. Und es leben dort sehr viele Schafe. Sie grasen auf den Dämmen und fressen auch das zähe Gras in den Dünen. 

Bock: Ich weiß nicht ... das überzeugt mich nicht ganz. Aber das mit dem Gras interessiert mich doch.

Ich: Ja klar - in Amsterdam ein Touristenmagnet! Ich war so überwältigt vom flüssigen Fahrradfahren und der einfachen Benutzung des öffentlichen Verkehrs – ich war schon davon high genug.

Bock: Langweilig!

Ich: Zu den Fakten und Dimensionen und worum es mir auf der Reise auch ging: Amsterdam hat über 900.000 Einwohner (Dichte: 4201 Einw. pro km²) und ist damit kleiner als Wien mit knapp 2 Millionen aber weist eine ähnliche Bevölkerungsdichte auf (4778 Einw. pro km²). Utrecht mit 367.951 Einwohnern (3705 Einw. pro km²) ist durchaus vergleichbar mit Graz 298.479 (2340 Einw. pro km²). Den Haag mit 562.416 liegt dazwischen und die Fahrradstadt Houten südlich von Utrecht ist mit 50.580 (912 Einw. pro km²) vergleichbar mit österreichischen Städten wie St. Pölten 57.639 (508 Einw. pro km²), Villach 65.135 (461 Einw. pro km²) oder Wels 64.385 (1.376 Einw. pro km²).

Bock: Statistik – langweilig! Du hättest doch zumindest ein paar Kekse essen sollen!

Ich: Warte! Worauf ich hinaus will ist: diese Städte haben nicht mehr oder weniger Einwohner oder viel mehr Platz! Sie sind zwar flacher aber dafür weht permanent starker Wind. Sie sind mit den unseren vergleichbar und haben es trotzdem schon geschafft ihre Innenstädte massiv lebenswert umzugestalten. Der Autoverkehr ist dort Gast und das macht einen riesigen Unterschied in der Lebensqualität aus!

Bock: Ok, ich höre ...

Ich: Wo soll ich beginnen?! Die Prämisse wurde eben geändert. Die Innenstädte werden für die Menschen gestaltet und nicht für die Autos. Fußgänger:innen und Radfahrer:innen haben grundsätzlich Vorrang vor dem Autoverkehr. In Utrecht starben in den 70ern 400 Kinder pro Jahr in Autounfällen und weil gleichzeitig die Ölkrise herrschte, schaffte es die Stadtregierung gegenzusteuern und eine andere Richtung einzuschlagen als bei uns. Die großen Würfe in die Richtung entstanden aber auch erst im neuen Jahrtausend. Das alles ist für uns hier auch umsetzbar - es fehlt halt leider der politische Wille. 

Bock: Erklär mir das: die Innenstädte wären leise und sauber, die Lebensqualität und Gesundheit der Bevölkerung steigt, die Wirtschaft floriert weil sich Menschen dort gerne aufhalten, der Energieverbrauch sinkt, es werden Arbeitsplätze geschaffen weil mehr Menschen Fahrräder besitzen und benutzen. Die Klimaschutz-Ziele können erreicht werden, Begrünung ist einfacher umzusetzen, wir müssen keine Strafzahlungen tätigen, es gibt weniger schwere Verkehrsunfälle, die Menschen werden gesünder weil sie sich mehr bewegen und das in sauberer Luft ... Kinder können sich alleine in der Stadt bewegen ebenso wie alte und beeinträchtigte Menschen ... was waren noch einmal die Argumente gegen eine solchen Entwicklung????!!!!

Ich: ... ¯\_(ツ)_/¯ ... ich weiß es nicht ... Korruption vielleicht?* Weißt du lieber Bock, mein momentanes Gefühl erinnert mich an meine Erfahrungen in Norwegen: ich durfte vor Jahren ein paar Monate an der Uni Oslo arbeiten und den Unterschied im Fortschritt bezüglich Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern direkt erleben. So geht es mir jetzt mit der Lebensqualität in der Stadt. Es ist toll es anders erlebt zu haben und zu wissen dass es geht – und es macht Mut sich dafür auch zuhause weiterhin einzusetzen.

* Korruption ist „der Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“ (Transparency International, et al.). Korruption ist demnach der Missbrauch einer überantworteten Macht oder Entscheidungsbefugnis, verbunden mit der Absicht, einen ungerechtfertigten Vorteil zu erlangen. Korruption ist ein Phänomen, das alle Bereiche der Gesellschaft erfasst und verheerende Folgen auf sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ebene hat.

(Quelle: Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK))

 

Wie es bei mir ganz gut funktioniert und was ich selber beitragen kann:

Ich nehme mir im Straßenverkehr selbstbewusst und wach den Raum den ich brauche.

Ich sehe mich mit den Autofahrer:innen gleichwertig.

Ich verhalte mich kooperativ auf Augenhöhe.

 

Was zu tun ist:

eine Menge aber es ist auch keine Zauberei. Es ist eine Willens- und Geldfrage, d.h. eine Umschichtung der Budgets mit starken Investitionen in den Öffentlichen Verkehr und Fahrrad- und Fußgänger:innengerechte Städte und deren Umland. Exkurs: viel zu viel Geld ist in privaten Händen und es wird immer mehr. Viel zu wenig dagegen in staatlichen Budgets. Wir brauchen endlich Vermögens- und Finanztransaktionssteuern um die Schieflage zwischen immer reicher werdenden Personen und dem Rest der Welt ansatzweise korrigieren zu können (https://millionairesforhumanity.org/the-millionaires/marlene-engelhorn/).

Mehr zur multimodalen Fahrrad- und Öffi-Infrastruktur (und Budgets), niederländischen Fahrrad-Nutzung (keine Helme, Transporträder für Kinder, sonst Fahrradtaschen oder Kisten etc.), Energiegewinnung und warum wir von Graz nach Amsterdam (unwillig) geflogen und nicht mit dem Nachtzug gefahren sind, folgt in den nächsten Beiträgen.

Danach folgen Betrachtungen zu unserer eigenen Fahrrad- und Outdoor-Tradition. Wir Österreicher:innen sind nämlich aus meiner Sicht auch - wie die Niederländer - prädestiniert ein Fahrradland zu sein. Wer gelernt hat schizufahren, kann auch im Winter und bei Regen radfahren. Mit geeigneter Ausrüstung und Infrastruktur macht beides Spaß.

 

Weiterführende Links:

https://copenhagenizeindex.eu/the-index

https://taz.de/Der-Siegeszug-des-Fahrrads-in-Utrecht/!5869288/